Die Geschichte der Burg Botzlar
Wer in Erwartung einer mittelalterlichen Burganlage nach Selm reist, wird beim Anblick des als „Burg Botzlar“ bekannten Gebäudes, zumindest überrascht sein. In dem vermutlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichteten Gutshaus entsteht gerade der zentrale Ort bürgerschaftlichen Engagements in der Neuen Mitte Selms. Unter der Ägide der Bürgerstiftung Stadt Selm wird das auch als Haus Botzlar bezeichnete Gebäude zum Treffpunkt für alle Bürger:innen und Sitz des örtlichen Heimatvereins umgebaut.
Dennoch reicht die Geschichte des Hauses Botzlar und des umgebenden Terrains zurück bis in das 12. Jahrhundert. Bauhistorische Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass sich im Süden des heutigen Bauwerks Reste des mittelalterlichen Wohnturms der Burg befinden. Die bisher erfolgten archäologischen Grabungen ergaben eine Datierung der ältesten Funde in die Zeit nach 1180. Mehr zu den archäologischen Grabungen lesen.
In der urkundlichen Überlieferung taucht die Burg Botzlar erstmals 1282 auf, als die Herren von Meinhövel die Burg an den Bischof von Münster übertrugen. Dieser baute die Burg Botzlar in der Folgezeit zur fürstbischöflichen Landesburg aus, um die Südgrenze seines Herrschaftsbereiches gegen die konkurrierenden Grafen von der Mark zu sichern. Mehr zur Burggeschichte lesen.
Die mittelalterliche Burganlage bestand aus zwei mit Brücken verbundenen Inseln, die in mehrfachen Ringen von Wassergräben (Gräften) umgeben waren. Während sich auf der kleineren Insel in erhöhter Lage die Hauptburg befand, lagen auf der größeren Vorburginsel die Wirtschaftsgebäude. Ab 1768 verpachtete der damalige Besitzer, der Freiherr von Landsberg Velen, Botzlar. Die Gebäude auf der Oberburg wurden vermutlich zur gleichen Zeit teilweise abgerissen und in den folgenden Jahrzehnten mit in dem heutigen Haus Botzlar überbaut.
Zur Zeit der napoleonischen Besetzung Westfalens wurde die Verwaltung und Justiz unter französischer Aufsicht fortgeführt. Ab 1815 war Haus Botzlar Amtssitz des Maire (Bürgermeisters) in der neugeschaffenen Mairie Bork, die zum Arrondissement Dortmund gehörte. Amtsinhaber war der ehemalige Rentmeister von Botzlar, Edmund Fuisting.
LAV NRW Westfalen U 132 / GA von Landsberg-Velen (Dep.) / Akten, Nr. 21663.
Ab 1834 wurde Botzlar an Wilhelm Brüning verpachtet. Er investierte viel Arbeit und Geld in den vernachlässigten Besitz und baute Botzlar zu einem lukrativen Landgut aus. Unter anderen errichtete er Gebäude für den Betrieb einer Brennerei. Brüning verstand sich als Unternehmer und gestaltete die althergebrachte Ökonomie auf Botzlar nach fortschrittlichen, wirtschaftlichen Kriterien um. 1852 eröffnete er unter landesweiter Beachtung auf Botzlar die erste Ackerbauschule dieser Art im Regierungsbezirk Münster. Mehr zur Ackerbauschule lesen.
Nach der Schließung der Ackerbauschule im Jahre 1869 wurde Gut Botzlar weiter von der Familie Brüning bewirtschaftet. Der auf Gut Botzlar geborene, jüngste Sohn der Familie, Georg Brüning, wurde später Oberbürgermeister der Stadt Beuthen (Bytom). Ab 1889 ist Heinrich Theodor Kamphaus Pächter des Gutsbetriebes.
1891 beschrieb Julius Schwieters die Situation in Botzlar.
„Gegenwärtig ist von der alten Burganlage wenig mehr zu sehen, nur die breiten Wasseranlagen, als unmittelbare Umgebung des Hofes, sind noch vorhanden. Sie bilden ein langes Rechteck: man gelangt von der Landstraße, von Westen her, über eine Brücke zuerst auf einen langen Vorplatz, die alte Vorburg, jetzt beiderseits mit Ackerwirtschaftsgebäuden besetzt, die mit ihrer Rückseite am Wasser stehen. Von diesem Platz kommt man über eine zweite Brücke auf den Platz der eigentlichen alten Burg. An Stelle derselben ist im Anfange dieses Jahrhunderts ein großes, neues, steinernes, zweistöckiges Wohnhaus gebaut, welches etwas düster ausschaut, und auf seinem First ein kleines Glöckchen trägt, womit die Arbeiter und das Gesinde zum Essen gerufen werden.“ Aus: Schwieters, Julius: Geschichtliche Nachrichten über den westlichen Theil des Kreises Lüdinghausen, Münster, 1891, S. 433.
1907 verkaufte Graf Friedrich von Landsberg Velen und Gemen das Gut Botzlar an die Bergwerksgesellschaft Hermann zu Bork. Diese errichtete zwischen 1909 und 1923 im Umfeld der ehemaligen Burganlage die „Hermannssiedlung“, die Wohnkolonie der Zeche Hermann. Noch heute ist zu erkennen, dass östlich des Hauses Botzlar die Anlage der Zechensiedlung in konzentrischen Ringen dem Verlauf, der zur Bauzeit noch erhaltenen Burggräben folgt.
Im Zuge der Niederschlagung des Ruhrkampfes bezog der spätere Widerstandskämpfer Martin Niemöller, als Kommandeur des III. Bataillons des rechtsradikalen Verbandes studentischer Freiwilliger „Akademische Wehr Münster“, sein Hauptquartier im Haus Botzlar. Am 1. April 1920 stürmte sein Bataillon die Zeche Hermann II und besetzte die angrenzende Zechensiedlung. Nachdem die Zeche Hermann bereits 1926 wieder stillgelegt wurde, gerieten viele Familien in eine schwere Notlage. Die caritativen Vereine Selms und der Kreisverein der Vaterländischen Frauenvereine des Roten Kreuzes Lüdinghausen organisierten deshalb im Winter 1931 und 1932 eine Volksküche im Haus Botzlar. Dort erhielten täglich 200 Kinder eine warme Mahlzeit.
Hinweis zum Datenschutz
Bitte bestätigen Sie die Aktivierung dieses Videos.
Nach der Aktivierung könnten Cookies gesetzt und Daten an YouTube (Google) übermittelt werden.
Zur Datenschutzerklärung von Google
Am 10. Juli 1934 wurde im Haus Botzlar die „Führerinnenschule der NS-Frauenschaft“ des Gaues Westfalen-Nord eröffnet. Frauen, die sich in leitenden Funktionen in Nationalsozialistischen Organisationen engagierten, wurden hier als Multiplikatorinnen ideologisch geschult. Die damalige Eigentümerin, die Gewerkschaft Emscher-Lippe, stellte Haus Botzlar der NS-Frauenschaft mietfrei zur Verfügung. Kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges erfolgte die Schließung der Schule am 12. August 1939. Mehr zur Gaufrauenschaftsschule lesen.
Infolge von Bombenschäden wurde 1943 das Krupp Werksarchiv in das Haus Botzlar verlagert. 1955 ging Haus Botzlar in den Besitz der Bergwerksgesellschaft Achenbach über und Haus Botzlar diente als Sitz der Wohnungsverwaltung der Hermannssiedlung. Im Erdgeschoss wurde ein Jugendheim für Berglehrlinge mit Werkstatt und Bastelraum eingerichtet. Nachdem die Siedlungshäuser privatisiert worden waren, wurde der Verwaltungssitz 1967 aufgelöst. In den Folgejahren nutzte die Gemeinde Haus Botzlar zur Unterbringung von Familien, die durch die Privatisierung obdachlos geworden waren. Der Ort, der jahrhundertelang die Geschicke seines Umfeldes bestimmt hatte, verwahrloste, die noch vorhandenen Wassergräben wurden zugeschüttet, die Wirtschaftsgebäude 1974 und 1975 abgerissen. Auch das Schicksal der „Burg Botzlar“ schien besiegelt.
1976 entschloss sich die Gemeinde Selm Haus Botzlar und das umgebende Terrain zu kaufen. Der rückseitige Anbau wurde abgebrochen, der Innenbereich renoviert und umgebaut, die historische Bruchsteinfassade verputzt. Im Mai 1982 erfolgte schließlich die feierliche Eröffnung des „Rats- und Bürgerzentrums Haus Botzlar“. Zehn Jahre später öffnete das auf der ehemaligen Vorburginsel errichtete Bürgerhaus Selm seine Pforten.
2012 erhielt die Bürgerstiftung Stadt Selm anlässlich des Stadtfestes zum 35-jährigen Stadtjubiläum eine großzügige Spende, um das Haus Botzlar zu erwerben. Nach einem umfangreichen Umbau wird „die Burg“ allen Bürger:innen für unterschiedlichste Kulturprojekte und Veranstaltungen zur Verfügung stehen.
Quellen und Literatur
Dortmunder Zeitung, Nr. 482 vom 15.10.1931 abrufbar unter https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/1092765
und Nr. 510 vom 31.10.1931 abrufbar unter https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/1093059
Artikel „Haus Botzlar als Jugendheim“ in: Münstersche Zeitung. Nr.160 vom 1407.1955, Stadtarchiv Selm
Luftbildsammlung des Regionalverbandes Ruhr, abrufbar unter https://www.rvr.ruhr/daten-digitales/geodaten/luftbilder/
Ur-Kataster Amt Bork, KSK 8881, Selm-Beifang Flur 6, 1827 mit Fortschreibungen bis 1923, Stadtarchiv Selm Digitalisat.
Gewitzsch, Dieter: Ackerbauschule Botzlar 1852-1869. Ortsgeschichte nach Aktenlage im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, Selm 2021. Online-Ausgabe unter https://aktenlage.net/edition-plattes-land/
Gewitzsch, Dieter: Manuskript eines Vortrages zur Burg Botzlar. Gehalten beim Heimatverein Selm am 03.03.2023.
Heimatverein Selm (Hg.): Ergänzungen zum Heimatbuch Selm 858-1958. Selm 1990.
Hopf, Hans-Peter: Auf den Spuren unserer Väter: Selm 1815 – 1975. Heimatbuch Selm. Selm 1995.
Schwieters, Julius: Geschichtliche Nachrichten über den westlichen Theil des Kreises Lüdinghausen, die Pfarrgemeinden Venne, Ottmarsbocholt, Senden, Lüdinghausen, Seppenrade, Olfen, Selm, Bork, Kappenberg und Altlünen, Münster, 1891.
Wanko, Michael: Die Schule der NS-Frauenschaft auf der Burg Botzlar. Schriftenreihe des Stadtarchivs Selm, Bd. 5. Selm 1999.
Weißenberg, Rita: Uns wurde nicht geschenkt. Selm 1985.
Werdermann, Hartmut: Die Geschichte des Hauses Botzlar. Vortrag gehalten am 7. Mai 1982, während der „Woche der offenen Tür“ anlässlich der Einweihung und Übergabe des neuen Rats- und Bürgerzentrums Haus Botzlar. Stadtarchiv Selm Zeitgeschichtliche Sammlung.
Ziemann, Benjamin: Martin Niemöller als völkisch-nationaler Studentenpolitiker in Münster 1919 bis 1923, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 67/2, 2019, S. 209-234. Onlineausgabe unter https://doi.org/10.1515/vfzg-2019-0012
Mail von Bettina Heine-Hippler (LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen) vom 24.04.2023 zur Bau- und Restaurierungsgeschichte der Burg Botzlar
Zum aktuellen Umbau der Burg Botzlar:
https://www.buergerstiftung-selm.de/burg-botzlar/
Zum historischen Archiv Krupp: https://www.thyssenkrupp.com/de/unternehmen/historie/archive
Zu Georg Brüning, Oberbürgermeister von Beuthen:
https://aktenlage.net/Gesellschaft/Familie-Bruening,-Botzlar/Georg-Bruening/